Heilkraft aus den Muskeln
Bewegung ist gesund – sie wirkt positiv auf den Bewegungsapparat, aber auch auf das Herz-Kreislauf-System, den Stoffwechsel, das Abwehrsystem, die Hormone sowie auf das Nervensystem. Deshalb wirkt körperliche Aktivität vorbeugend gegen nahezu alle großen Volkskrankheiten wie Krebs, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes, Depressionen, Rückenschmerzen oder Knochenschwund.
Bewegung lindert zudem Nebenwirkungen einer Krebs-Therapie, reduziert Schmerzen und erhöht die Überlebenswahrscheinlichkeit. Wen wundert’s, dass Sport inzwischen ein wichtiger Bestandteil bei der Rehabilitation der unterschiedlichsten Erkrankungen ist.
Muskeln prodzieren Heilstoffe
Warum das so ist, wollten Wissenschaftler der Universität Kopenhagen genau wissen. Sie untersuchten, welchen Einfluss Sport auf das Immunsystem hat. Dabei werteten sie die Blutproben ihrer Probanden nach den Trainingseinheiten aus und registrierten einen Anstieg der Substanz Interleukin 6 (IL-6).
Dass Interleukine bei der Regulation von Entzündungsreaktionen im Körper eine wichtige Rolle spielen, wusste man bereits. Dass das entdeckte IL-6 aber nicht von den Immunzellen produziert wird, sondern dass die Muskelzellen den Stoff herstellen, war eine wegweisende Entdeckung.
Erst körperliche Aktivität setzt die innere Apotheke in Gang und lässt sie Wirksubstanzen ins Blut abgeben. Mit dem Blutstrom wandern die Myokine ins Fettgewebe, zu Leber, Herz, Tumorzellen oder ins Gehirn.
Was Myokine alles können
Experten schätzen, dass es zwischen 200 und 600 solcher Stoffe gibt. Diese Muskelheilstoffe besitzen vielfältige Aufgaben: Interleukin-6 zum Beispiel stimuliert die Bildung neuer Abwehrzellen und wirkt entzündungshemmend. (Entzündungen gelten als Förderer vieler chronischer Erkrankungen, darunter auch Krebs.) Außerdem steigert Interleukin-6 den Fettstoffwechsel und macht Zellen empfänglicher für Insulin. Das Risiko für Diabetes und Übergewicht sinkt.
Oder ein anderes Beispiel: Myokin BDNF. Vom Myokin BDNF wissen die Forscher, dass es die Blut-Hirn-Schranke überwindet und das Wachstum des Hippocampus stimuliert – das Erinnerungs- und Lernvermögen verbessert und möglicherweise vor Demenz und Depression schützen kann.
Wieder andere Substanzen beeinflussen die Neubildung von Knochen, verbessern deren Stabilität und Dichte – und schützen so vor Osteoporose.
Wirkung der Myokine bei Krebs
Inzwischen sind drei Myokine bekannt, die spezifisch gegen Krebs wirken, allen voran das bereits genannte Interleukin-6. So stellten die Forscher fest, dass das Hormon Adrenalin die Produktion der natürlichen Killerzellen anregt, welche den Tumor bekämpfen. Aber erst das Myokin Interleukin-6 lotst die Killerzellen zum Tumor und bewirkt, dass diese das krank machende Gewebe angreifen. Dieser Mechanismus könnte also ein entscheidender Faktor dafür sein, dass die Überlebenswahrscheinlichkeit von Patienten mit Brust-, Darm- oder Prostatakrebs steigt, wenn diese sich moderat bewegen.
So hat eine Datenauswertung von über 12 100 Brustkrebspatientinnen gezeigt: Frauen, die Sport trieben, verringerten ihr Risiko, an der Krankheit zu versterben um 34 Prozent im Vergleich zu Erkrankten, die sich wenig bewegten. Für dieses Ergebnis war zügiges Walking oder eine Aktivität mit vergleichbarem Energieverbrauch für mindestens drei Stunden pro Woche notwendig.
Außerdem konnten Wissenschaftler beobachten, dass durch körperliche Aktivität die therapiebedingten Symptome bei Krebspatienten abnehmen. Gegen Fatigue – eine emotionale und geistige Müdigkeit und Erschöpfung – wirkt nachweislich eine Kombination aus Kraft- und Ausdauersport. 70 bis 90 Prozent aller Krebserkrankten leiden unter Fatigue, nicht selten über Jahre hinweg. Diese Erschöpfung wird von den Betroffenen als eine der belastendsten Auswirkungen der Therapie erlebt. Eine körperliche Ursache hierfür lässt sich oft nicht feststellen.
Sport ist derzeit die einzige Behandlungsmöglichkeit. Am besten wirkt die Bewegung, wenn die betroffenen bereits während der Chemo- oder Strahlentherapie mit dem Training beginnen in der Phase der Rehabilitation das Training intensivieren. So lassen sich auch Schlafstörungen oder depressive Stimmungslagen positiv beeinflussen.
Als mögliche Sportarten bieten sich Aquacycling, morgendliches Walking, Tanztherapie oder eine medizinische Trainingstherapie im Kraftraum an. Die Patienten sollten dabei darauf achten, sich möglichst in Gruppen zum Sport zu verabreden. Dabei werden nämlich gleichzeitig die sozialen Kontakte gestärkt, die Betroffenen können sich austauschen und gegenseitig motivieren.
Bewegung hilft übrigens auch gegen Polyneuropathie, die als eine weitere häufige Nebenwirkung der Chemotherapie auftreten kann. Bei Polyneuropathie spüren Patienten ein Kribbeln in den Fingern oder Zehen, haben Taubheitsgefühle, stolpern oder können nicht richtig greifen. Spaziergänge oder Walken sind bei Polyneuropathie geeignet, was regelmäßig ausgeführt werden sollte. Grundsätzlich eignen sich jedoch alle Sportarten, mit denen Sie Ausdauer und Kraft trainieren und die Beweglichkeit steigern. Barfußlaufen auf verschiedenen Untergründen oder die Galileo-Rüttelplatte, auf der der Patient das Gleichgewicht trainiert, werden ebenfalls gegen die Polyneuropathie eingesetzt.
Weitere Forschungen notwendig
Noch ist unbekannte, welche Myokine im Einzelnen welche positiven Effekte auslösen und ob unterschiedliche Sportarten verschiedene Myokine ins Blut freisetzen. Möglicherweise produzieren die Muskeln beim Ausdauersport andere Botenstoffe als beim Kraft- oder Koordinationstraining. Mit diesem Wissen könnte man dann das Training so effektiv gestalten, dass es z. B. eine maximale Anti-Tumor-Wirkung erzielt. Erste Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Muskeln zumindest einige Myokine speziell bei Kraftübungen produzieren.
Zukünftig werden vielleicht Myokin-Konzentrationen im Blut vor und nach dem Sport gemessen. Jetzt schon gilt: Nur wer sich regelmäßig bewegt, bringt seine Muskeln dazu, die wichtigen Heilstoffe herzustellen.
Sport verlängert das Leben
Auch außerhalb einer Reha-Therapie ist Sport für die Gesundheit enorm wichtig. Denn dass Sport das Leben verlängern kann, wurde in den letzten Jahren in mehr als 50 Studien bestätigt. Eine Untersuchung an über 130.000 Personen aus 17 Ländern zeigte zudem, dass auch anstrengende körperliche Aktivitäten das Risiko für Herz-Kreislauferkrankungen und dadurch bedingte Todesfälle signifikant senken.
Doch nicht jede körperliche Aktivität verlängert das Leben gleichermaßen. Zu diesem Ergebnis kam die „Copenhagen City Heart“-Studie. Dabei wurde auf Basis von Gesundheitswerten und Lebensdauer von fast 9000 Menschen erstmals ein Ranking erstellt, welche Sportarten wie viel Extra-Lebenszeit bringen: Tennis: + 9,7 Jahre, Badminton: + 6,2 Jahre, Fußball: + 4,7 Jahre, Radfahren: + 3,7 Jahre, Schwimmen: + 3,4 Jahre, Joggen: + 3,2 Jahre, Gymnastik: + 3,1 Jahre.
Um mit Sport und körperlicher Aktivität anzufangen, ist es übrigens nie zu spät: Selbst wer erst mit 40, 50 oder gar 60 Jahren mit regelmäßigem Sport anfängt, kann seine Lebenserwartung steigern. Das legt jedenfalls die große Diet and Health Study des National Institutes of Health-AARP aus den USA nahe. Eine Untersuchung aus dem Brigham and Women´s Hospital im amerikanischen Boston zeigte sogar, dass über 70-jährige Frauen durch regelmäßige körperliche Aktivität zum längeren Leben beitragen konnten.
18.000 Frauen wurden dafür mehrere Jahre lang beobachtet mit dem Ergebnis: je härter die Frauen trainierten, desto länger leben sie. Wer am intensivsten trainierte, hatten sogar eine um 65 % reduzierte Sterblichkeitsrate. Wer dagegen nur wenig trainierte, konnte sein Todesrisiko kaum reduzieren. Auch wer nur in seiner Jugend sportlich ist, hat keine Vorteile für seine Gesundheit: Diese Menschen lebten nur um vier bis 14 Prozent länger als diejenigen, die nie aktiv waren.
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